Einblick
in die Welt
des Butoh
Das lebendige Tanzarchiv: Nanako Nakajima über unterschiedliche zeitgenössische Herangehensweisen an Butoh.
Text: Nanako Nakajima
Diesen Sommer werden wir unterschiedliche Herangehensweisen an Butoh entdecken, eine Form von Avant-Garde Tanz, die ihren Ursprung in Japan findet. Keiner der Künstler, die bei Tanz im August auftreten, sind ausgebildete Butoh-Tänzer*innen oder bezeichnen sich als solche. Was hat sie dazu geführt sich jetzt mit Butoh auseinanderzusetzen und was wird aus der hegemonischen kulturellen Praxis, die hier auf Butoh trifft, hervorgehen?
Butoh ist eine zeitgenössische Form, die sowohl einen euro-amerikanischen als auch einen japanischen Ursprung hat, und bekannt ist für ihre schockierenden Körperverrenkungen und ihren Hang zum Tabubruch. Butoh ist aus den neuen Bewegungen im japanischen Tanz der 50er Jahre hervorgegangen, denen auch die zwei Begründer des Butoh, Tatsumi Hijikata und Kazuo Ohno, angehören. Beide lehnten den Trend, sich im modernen japanischen Tanz an westlichen Tanzstilen zu orientieren, ab. Hijikata nannte die Bewegung bis zu seinem Tod im Jahr 1986 „Ankoku Butoh“, was „Tanz der Dunkelheit“ oder „Schwärze“ bedeutet.
Es ist schwierig, Butoh zu definieren und die Definition selbst ist höchst kontrovers. Hijikatas Ideen gelten als so maßgebend für die Butoh-Theorie und -Praxis, dass es keine Butoh-Praxis ohne sie gibt. Ein Kritiker beschrieb die nackten Körper, die kahlen Köpfe, die weiße Schminke und den Transvestitismus als grundlegende Bestandteile von Butoh. Für Hijikata aber lag die Essenz von Butoh in der zutiefst japanischen Natur der physischen Handlung und der Betonung des asiatischen und japanischen spirituellen Klimas. Ob man seinen Essenzialismus akzeptiert oder nicht, man kann Butoh als innovative Herangehensweise an den Körper im Tanz verstehen, der keinen geformten Körper produziert.
Heute ist Butoh eine Tanzform, die von internationalen Tänzer*innen in der gesamten Welt getanzt wird. Im Gegensatz zu Japan, wo sich die neue Generation von ausgebildeten Butoh-Tänzer*innen selbst als zeitgenössische Tänzer*innen definieren, hat sich Butoh außerhalb des Landes besser gehalten – obwohl es dem, was heute als Butoh gilt, oft an Brüchen und Kanten fehlen.
2010 starb die Butoh-Legende Kazuo Ohno, 2015 erfuhren wir von dem plötzlichen Tod von dem gefeierten Erbe von Hijikatas Butoh, Ko Murobushi. Das Butoh-Erbe ist nun zu einem Archiv-Wissen geworden, das auch für das Publikum zugänglich ist. Zusätzlich zu dem Kazuo-Archiv, dem Yoshito Ohno Archiv und Hijikata Tatsumis Archiv, ist das Ko Murobushi Archiv nun online frei zugänglich. Die unterschiedlichen Herangehensweisen an Butoh, die wir heute erleben, werden ermöglicht durch die Bemühungen, dieses Wissen zugänglich zu machen.
„The dance of death and disease“
Kazuo Ohno – The Written Face (1996)
Tatsumi Hijikata – Rose Color Dance (1966)
Takao Kawaguchi: „About Kazuo Ohno“ – Trailer
Wir haben überlebt, weil andere für uns gestorben sind.
“About Kazuo Ohno” von Takao Kawaguchi
Takao Kawaguchi macht kein Geheimnis daraus, dass er Butoh nie gelernt hat und Kazuo Ohno nie auf der Bühne gesehen hat. Kawaguchi hat sich als Mitglied von Dumb Type von 1996 bis 2008 erst im Bereich der Media Art Performance etabliert. „About Kazuo Ohno“ ist ein Re-Enactment der Butoh-Legende Kazuo Ohno, die in Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Naoto lina und mit der Unterstützung vom Kazuo Ohno Dance Studio entstanden ist. In der Performance ahmt er anhand von Aufnahmen von Ohnos Meisterwerk, unter anderem „Admiring La Argentina”, “My Mother” und Ohnos Film “The Portrait of Mr. O”, Ohnos Tanz nach.
Kawaguchis kontroverser Vorgang, Ohnos Tanz anhand von Archivmaterialien nachzumachen, entspricht Ohnos Selbstsuche und seinem künstlerischen Weg. „The Portrait of Mr. O“ wurde während Ohnos Krise entwickelt. Nachdem Ohno und Hijikata bis 1967 durchgehend regelmäßig aufgetreten waren, konnte Ohno zehn Jahre lang nicht mehr vor Publikum auftreten. Weit entfernt von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit begann Ohno mit dem experimentellen Filmemacher Chiaki Nagano zu arbeiten und entwickelte „Trilogy of Mr. O“. Ohne diese innere Reise wäre Ohno nie wieder in der Öffentlichkeit aufgetreten, es war somit auch eine Vorbereitung auf seinen nächsten Schritt als Künstler, sein Meisterwerk „Admiring la Argentina“ 1977.
Sowohl Kawaguchi wie auch Ohno setzen auf ihrer Selbstsuche das Medium Film als Spiegelbild ein. Auf seiner Suche nach einer neuen Möglichkeit, seinen eigenen Tanzstil zu entwickeln, guckte sich Ohno die Filme immer wieder alleine an. Für Ohno war dieser Prozess eine Möglichkeit zu dem zurückzukehren, was in seinem Körper bewohnt war, indem er den Körper, der moderne Tanztechniken beherrschte, verleugnete und ein neues Urbild des tanzenden Körpers suchte. Indem Kawaguchi den gleichen Beobachtungsprozess wie Ohno durchlebt und die äußere Form des Körpers nachstellt, dreht er die Reihenfolge um, um Ohnos künstlerische Suche innerhalb seines (Kawaguchis) eigenen Körpers zu reproduzieren. Ohnos Tanz war oft improvisiert, bestand aus Bewegungen von innen. Dieser Übergang von außen nach innen, von der Gegenwart in die Vergangenheit, ist für Kawaguchi ein wirksamer kinematografischer Versuch, Ohnos ‘Tanz der Seele’ auf die Spuren zu kommen.
In „About Kazuo Ohno“ wird das bewohnte weibliche Bild von La Argentina, Jean Genet’s Divine und Ohnos Mutter von Kawaguchi tänzerisch herbeibeschworen. Obwohl Transvestitismus im japanischen Theater verbreitet ist, führt dieser Ansatz über das moderne Bewusstsein hinweg, zu dem Leid anderer und der Spiritualität der Natur.
Ohno setzt den Tanz als Brücke zwischen ihm selbst, der Natur und der Spiritualität ein. Er fühlte sich umgeben und bewohnt von verstorbenen Menschen, die die Form von Gespenstern annehmen. Wir hegen und pflegen unser eigenes Leben und das derjenigen, die uns umgeben, mit akribischer Sorgfalt. Andere haben ihr Leben geopfert damit wir in diese Welt kommen. Ohno vergleicht diese Idee mit dem Schmerz einer Mutter: Wenn ein Kind erkrankt, würde seine Mutter alles tun, um es zu retten, selbst ihr eigenes Leben für das ihres Kindes hergeben. Ohno möchte solchen Schmerz aus dem Tanz hervorgehen sehen.
Ohno glaubt, dass wir vom Leiden anderer geprägt sind, ohne uns dessen jemals bewusst zu sein. Wir haben überlebt, weil andere für uns gestorben sind. Wir schulden unsere Lebenserfahrungen den Opfern anderer. Kawaguchi simuliert Ohnos sichtbare Bewegungen anhand des Archivmaterials, er stellt damit den unsichtbaren Schmerz oder das Leiden einer Mutter dar. Ganz im Sinne des Leidens stellt Kawaguchi seinen Körper zur Verfügung und verwandelt sich für uns in Kazuo Ohno.
“Dança Doente” von Marcelo Evelin
Butoh begreift das Leben ganzheitlich. Nach den frappierenden Bildern eines nackten, kollektiven Körpers ganz in schwarz in „Suddenly Everywhere is Black with People“, konzentriert sich der brasilianische Choreograf Marcelo Evelin mit seiner Kompanie Demolition Incorporada nun auf den Zerfall des Körpers.
Für „Dança Doente“, was so viel wie ‘kranker Tanz’ bedeutet, ließ sich Evelin von Tatsumi Hijikata inspirieren und inszeniert einen Körper, der von dieser Welt angesteckt und von äußeren Kräften dominiert wird, die den Körper erschöpfen und bis zum Zerfall treiben. Evelin verfolgt seinen Gedanken des fragilen Körpers und nähert sich dem Tanz wie einem Objekt der molekularen Symptomatologie, der Pathologie eines sich bewegenden Körpers. Er sucht einen Tanz, der wie ein Virus wirkt – ansteckend und post apokalyptisch. Es wird mit dem Omen eines sicheren Tods gedroht, um die Kraft des Lebens zu bejahen.
Evelin wirft folgende Frage auf: Wie können wir Tanz als Symptom verstehen, das die subjektive Beschreibung einer Krankheit des Körpers veräußert und nicht die objektive Diagnose eines Arztes? Das Kranksein steht hier für die komplette Verunsicherung des Körpers und aller Prozesse, die ihn am Leben halten.
Hijikata war umgeben von Bildern von Krankheit. Sein Tanzstudio, Asbestos-kan, befand sich auf dem Grundstück eines ehemaligen Lepra-Krankenhauses, aber auch er selbst schrieb und sprach darüber, befasste sich in seiner Arbeit mit Themen wie Krankheit und Behinderung, unter anderem in seinen Lepra-Tanz. Hijikatas letztes Werk, eine mystische Autobiografie mit dem Titel „Yameru Maihime“ (1984), die von einer erkrankten Tänzerin handelt, spielt für Evelins Arbeit eine wichtige Rolle. Anstatt Hijikatas unübersetzbares, komplexes Wortgemälde zu lesen, hat Evelin im Rahmen einer Künstler-Residenz in Japan die persönlichen Berichte von japanischen Leser*innen gesammelt, um die Ausdrücke, Empfindungen, Bilder und Gesten, die sie dem Buch entnehmen, aufzugreifen.
Der Schriftsteller Yukio Mishima, dessen Roman zu männlicher Homosexualität „Kinjiki“ (Verbotene Farben) Hijikata in seiner ersten Butoh-Arbeit 1959 behandelte, ließ sich von seinem Austausch mit Hijikata dazu inspirieren, über die Pathologie eines sich bewegenden Körpers zu schreiben: der behinderte Körper, wie auch Butoh-Bewegungen, decken das Unechte (die Fakes) unser Alltagsbewegungen auf. Hijikata erzählte Mishima, dass er einen Patienten mit Zerebralparese beobachtete, wie er versuchte einen Gegenstand zu greifen. Die Hand des Patienten konnte sich nicht in gerader Linie auf den Gegenstand hinbewegen. Im Laufe mehrerer Versuche drehte der Patient seinen Arm erst in die entgegengesetzte Richtung und machte einen langen Umweg, bevor er den Gegenstand schließlich greifen konnte. Hijikata war überrascht, da er (Hijikata) seinem Studenten genau die gleiche Bewegung gelehrt hatte.
Butoh enthüllt den sozialdisziplinierten, gewöhnten Körper. Für Hijikata ist die zweckfreie Nutzung des Körpers, was er Tanz nennt, eine Form des Widerstands gegen eine produktorientierte, kapitalistische Gesellschaft. Ganz im Sinne von Hijikatas Rebellion des Körpers als erkrankter Körper in einer kapitalistischen Gesellschaft, sucht Evelin einen kranken Tanz, der als Vorzeichen des Todes auftritt. Indem alle Ideen und Verknüpfungen getötet und alle schon vorhandene Indizien aufgelöst werden, wird das Leben durch den Tanz in seiner Gänze bejaht.
Nichtsdestotrotz besitzt Tanz die Fähigkeit ‘anzustecken’: Evelin erinnert sich daran, wie er 1980 in Rio de Janeiro Pina Bausch zum ersten Mal tanzen sah, ein Bild, das in ihm weiterlebt, wie eine Krankheit oder ein Virus, den er nie loswurde. „Dança Doente“ ist wie ein Einschub zwischen „Kinjiki“ und „Yameru Maihime“, Hijikatas erstem und letztem Werk: Evelin lässt uns die Ansteckungskraft von Tanz spüren und setzt uns den „Viren“ dieser Welt aus – eine unvergessliche Erfahrung.
Produktionsfotos
Photos: Mauricio Pokemon, Alina Vladimirovna Zhdanova
Marcelo Evelin über Dança Doente
Kunstenfestivaldesarts 2017
„If Hijikata Tatsumi had not witnessed Katherine Dunham perform her Afro-Caribbean dance and music in Tokyo in 1957, nobody knows what would have happened to butoh.“
Trajal Harrell: „Caen Amour“
Festival d’Avignon 2016
“Caen Amour” von Trajal Harrell
Obwohl die japanischen Nachfolger*innen des deutschen Ausdruckstanzes für Hijikata und Ohno eine wichtige Rolle spielten, kann die Essenz von Butoh auf unterschiedliche Einflüsse zurückgeführt werden. Ein vor kurzem erschienener Artikel von Michio Arimitsu, der anlässlich einer Reihe von Veröffentlichungen zur zweijährigen Residenz von Trajal Harrell am MoMA herausgegeben wurde, beschäftigt sich mit dem afro-karibischen Ursprung von Butoh, ein Aspekt, der in der Geschichtsschreibung lange ausgeblendet wurde. Der Einfluss afrikanischer Kultur auf Hijikatas Werke wird laut Arimitsu durch das Blackfacing und das Töten von Hühnern bei seinem ersten Butoh-Auftritt deutlich. Er ließ sich von dem Voodoo-ähnlichem Auftritt der afro-amerikanischen Tänzerin Katherine Dunham in Tokyo inspirieren.
Trajal Harrell, ein New Yorker Künstler mit afro-amerikanischem und japanischem Hintergrund, stellt die weiß-dominierte Geschichte des US-amerikanischen postmodernen Tanz in Verbindung mit der Geschichte des Runway Movement und von Voguing in einen neuen Kontext. In seiner neuen Arbeit, „Caen Amour“, kann man Butoh neu entdecken. Neue Genealogien und Geschichten werden erzeugt. 2013 war im MoMA “Used, Abused and Hung Out to Dry” zu sehen, eine Arbeit, in der es auch um Hijikata und Rei Kawakubo ging, eine japanische Designerin deren Ausstellung “Rei Kawakubo/ Comme des Garçons: Art of the In-Between” zurzeit im Metropolitan Museum of Art zu sehen ist. Zusätzlich führt „Caen Amour“ auch die Tanzlegende und Art Nouveau Ikone Loïe Fuller ein und erforscht die Hoochie-Koochie-Show.
Fuller war eine amerikanische Tänzerin, die in Paris lebte, und die Muse zahlreicher Dichter und Maler, unter anderem Stéphane Mallarmé und Henri de Toulouse-Lautrec. Sie war für ihren ‘Schlangentanz’ bekannt, in dem sie ein wallendes, langärmliges Kleid trug, das auf besondere, theatralische Art beleuchtet wurde. Ihr Tanzstil war von anderen Kulturen beeinflusst, unter anderem von Otojiro Kawakamis japanischer Kabuki-Odori Truppe und Sada Yakko, die sie bei der Weltausstellung in Paris 1900 in ihrem eigenen Theater auftreten ließ. Fullers Faszination für die japanische Truppe kann als orientalistische Wahrnehmung vom Standpunkt einer herablassenden westlichen Einstellung gegenüber dem Nahen Osten, Asien und nordafrikanischen Gesellschaften gedeutet werden.
Fullers orientalistischer Blick, der auch mit Hijikatas Selbst-Exotisierung verknüpft werden kann, kann mit Harrells Problematisierung seiner eigenen Position und seines Exotizismus, wenn er sich mit Butoh auseinandersetzt oder als amerikanischer Künstler in Japan oder Asien arbeitet, verbunden werden. Harrell greift Hijikatas, Fullers und seine eigene Wahrnehmung auf und lässt verführerische Elemente in seine Arbeit einfließen. Er befasst sich mit der Hoochie-Koochie Show, eine betörende, exotische, in den USA sehr beliebte Show, welche die Bauchtanzshows einer syrischen Tänzerin namens Little Egypt bei der Chicago Weltausstellung von 1893 nachstellen sollte. Außerdem war Fullers Tanz auch stark von der Mode geprägt. Auf einer gesellschaftlichen Ebene treffen hier die Befreiung des weiblichen Körpers von Korsett und Büstenhalter, das Dress-Reform Movement und Fullers eigene Tanzreform im 20. Jahrhundert aufeinander.
Für „Caen Amour“ untersucht Harrell den Orientalismus im frühen modernen Tanz und in Hijikatas Butoh. Somit wird unsere Wahrnehmung durch seinen Blick und die Geschichte des frühen Modernismus gespalten. Der Gegenstand seiner Installation bietet zahlreiche Wahrnehmungsmöglichkeiten, er alterniert zwischen dem Standpunkt des Theaterpublikums und der Museumsbesucher*innen. Der vielseitige Blick und die vielschichtige Choreografie fordern von dem Publikum ein Bewusstsein für das kritische Potenzial einer imaginierten Vergangenheit und Zukunft. Es stellt sich die Frage: Wie nehmen wir Harrells neues Kunst-Spektakel-Tanzlabor, das sich an der Schnittstelle zwischen Fuller, Hijikata, Kawakubo, der ausgeblendeten Geschichte und dem Orientalismus befindet, wahr und wie imaginieren wir unsere alternative Vergangenheit und Zukunft?
“Au-delà de l’humain” von Cie Zora Snake
Cie Zora Snake ist 1990 in Kamerun geboren und hat dort zahlreiche bedeutende Hip-Hop Wettbewerbe gewonnen, bevor er sich vor kurzem in der Performance-Szene einen Namen machte mit seinen Performances, in denen er einen neuen Wortschatz entwickelt, nach anderen Bedeutungen und einem neuen Universum sucht. Mit „Au-delà de l’humain“ („über das Menschliche hinaus“) lässt er die Toten zum Leben erwachen. Diese outdoor Tanz Performance hält oft an der Schnittstelle zwischen Text, Choreografie und Szenografie inne, ein Punkt, der aus dem Raum zwischen dem Selbst und dem Doppelgänger, dem Körper und seinem Alias, dem Individuum und dem Anderen, dem Toten und den Lebenden, Tanz und Tradition, und Ritual und Kunst, hervorgeht und uns alle verbindet. Durch diesen Vorgang findet die unsichtbare Welt wieder einen Platz in unserem Leben und das, was in der Unterwelt lebt, beginnt wieder zu atmen. Jedes Subjekt hat ein Alias und kann ihren oder seinen Körper aufgeben, bis zu dem Punkt, wo ihr oder sein versteckter Doppelgänger sichtbar wird.
„Au-delà de l’humain“ wurde 2015 in Kamerun entwickelt und ist davon geprägt, dass Snake Mitglied des Bamileke Stamm ist, ein Stamm in dem das Anbeten der Vorfahren die Hauptreligion ist. Bei den Bamileke verwahrt der Anführer des Stammbaums die Schädel und bringt im heiligen Haus, „La’akam“, Opfer für die tragisch verlorenen Seelen. Diese Performance ist auch eine Form von choreografischem Trance-Protest gegen soziale Ungerechtigkeit und ein Aufruf für die Freiheit der Menschen. Das Stück verschreibt sich der politischen Aussage des Pan-Afrikaners und ehemaligen Präsidenten Burkina Fasos, Thomas Sankara: „Man kann einen Menschen töten, aber man kann seine Idee nicht töten.“ Snakes Wiederbelebung der Verstorbenen für die Freiheit erinnert uns an eine Zeit, in der Sklaven in einem System kolonialistischer Ungerechtigkeit das ewige Leben suchten.
Dieser Übergang ist eng mit der Räumlichkeit und dem Zusammentreffen aller verbunden. Dieser Raum bietet Snake ein Bühnenbild in kontinuierlicher Bewegung und die Greifbarkeit der Zeit. Es bietet der Öffentlichkeit eine letzte Möglichkeit zu bewerten, inwiefern der Künstler sein Versprechen einlöst, seine Meinungsfreiheit einzusetzen, um die Wahrheit auszusprechen und einen Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen zu erlangen. Es bietet Snake außerdem die Möglichkeit mit einem Publikum in Kontakt zu treten, das sonst von gewöhnlichen Theaterräumen ausgeschlossen wird.
Die Arbeit ist beeinflusst von existierenden Totentänzen und dem Tanz zur Reinigung der Seelen. Ein Teil besteht aus unterschiedlichen Ritualen mit 20 Kerzen und zehn kleinen Kreuzen in einem fünf Meter breiten, rechteckigen Feld. Wenn kultureller Dialog nur entstehen kann, wenn man das Leben mit Leben füllt, dann bietet dieses Projekt einen Übergang von der sichtbaren in die unsichtbare Welt. Diese Performance verlangt die Beteiligung des äußeren Publikums, es wird zu einem Zeuge mit dem Auftrag die Tanzbewegungen eines gereinigten Körpers zu übermitteln.
Laut Snake haben sowohl Butoh wie auch Voodoo-Rituale „Au-delà de l’humain“ geprägt. In der Butoh-Spiritualität, die eine Person mit der Natur und mit anderen Menschen verbindet, gibt es eine tatsächliche Kommunikation mit den Seelen und den Körpern. Snakes Verwandlung in Urseelen erinnert an Hijikatas Arbeit, der die Bewegung aus dem Gefühl, tot zu sein, hervorrief. Butoh war eine Leiche, die vergebens versuchte aufrechtzubleiben, Hijikata trug eine Person in sich, die schon gestorben war und immer wieder in seinem Körper starb. Er schrieb, dass eine tote Schwester in seinem Körper lebe, die die Dunkelheit aus seinem Körper pflücke und aufstehe, wenn er sich hinsetzt. Sie war sein Meister, denn ein Toter lehrte Hijikata Butoh. An dieser Schnittstelle, wo zwei weit entfernte Genealogien aufeinandertreffen, sehen wir vielleicht wie Snake Hijikatas Seele wiederbelebt.
Übersetzung aus dem Englischen: Anna-Katharina Johannsen
Background Photo Title: Orpheas Emirzas
Background Video: Marcelo Evelin; Takao Kawaguchi; Trajal Harrell (Kamera/Schnitt: Andrea Keiz, entstanden im Rahmen von TANZFONDS ERBE)
Background Photo #1: Takuya Matsumi
Background Photo #2: Mauricio Pokemon
Background Photo #3: Orpheas Emirzas
Background Photo #4: Les Récréâtrales
Produktionsfotos
Photos: Les Récréâtrales
Takao Kawaguchi
About Kazuo Ohno
16.8., 17.8., 19:00 | HAU3
110 min
Trajal Harrell
Caen Amour
17.8., 18.8., 21:00, 19.8., 19:00, 21:00 | HAU2
75 min
Marcelo Evelin | Demolition Inc.
Dança Doente
01.09., 02.09., 21:00 | HAU2
95 min
Cie Zora Snake
Au-delà de l’humain
11.8., 20:15, 12.8., 17:00 | HAU1 (outdoor)
45 min
12.8. | 17:45 | Bibliothek im August | Meet the Artist: Zora Snake
18.8. | 17:00 | Bibliothek im August | On the Sofa: The Kazuo Ohno Archive Toshio Mizohata
18.8. | 22:15 | Bibliothek im August | On the Sofa: Revisition Butoh Trajal Harrell & Takao Kawaguchi
19.8. | 20:15 | Bibliothek im August | Dance Circle: Caen Amour
1.9. | 22:45 | Bibliothek im August | Dance Circle: Dança Doente