Die Freiheit
zu imaginieren
La Ribot über die fünf Hirne des Performers und Denken im größeren Kontext.
Ein Gespräch zwischen Virve Sutinen und La Ribot, Berlin im Mai 2017
Die spanische Künstlerin La Ribot spricht über ihre Retrospektive, bei der Live Performances und Filme von 1993 bis heute zu sehen sind. Im Laufe ihrer Karriere ist sie von ihrer Heimatstadt Madrid über London – wo ihre künstlerische Praxis die Ideen des Live Art Movement der 90er Jahre und dem Anfang der 2000er gut ergänzte – nach Genf gekommen, wo sie zurzeit mit ihrer Familie lebt. Ihre vielleicht bedeutendsten Arbeiten sind ihre „Distinguished Pieces“, kurze Solo-Stücke, die unter verschiedenen Namen als Teile unterschiedlicher Reihen zu sehen sind, mit denen sie sich sowohl im Theater wie auch in der Bildenden Kunst einen Namen machte.
Das Gespräch mit La Ribot wird zu einer Performance, die mein Telefon nicht aufnimmt. Ihre Hände weben und peitschen durch die Luft, sie springt auf, um zu zeigen, was sie meint, wenn ihr die Worte fehlen. Oft führen ihre Hände ihre Sätze zu Ende.
Photo: Daniel Hofer
Am langweiligsten ist es jemandem zuzugucken, der sich nichts vorstellt.
Panoramix
In ihrer prägenden Arbeit „Panoramix“ performt La Ribot über drei Stunden hinweg ganz alleine 34 kurze Stücke aus ihrer gefeierten Reihe „Distinguished Pieces“. Das ist körperlich anstrengend, verlangt von ihr aber auch, dass sie sich mit alten Arbeiten wieder auseinandersetzt, von denen manche 1993 zum ersten Mal gezeigt wurden.
La Ribot: „Panoramix“ war eine Auftragsarbeit von Lois Keidan und Daniel Brine für die Live Culture Ausstellung der Tate Modern 2003. Sie besteht aus drei der ‚Distinguished Pieces‘ Reihen. Die Bedeutung dieser Arbeiten hat sich nicht verändert, aber ich muss mich ihnen langsam nähern, um die entsprechenden Gefühle wieder zu spüren. Es geht mehr um den Körper, als um das, was im Kopf passiert. Ganz tief in meinem Gedächtnis ist ein Bild meines jüngeren Selbst. Das mag dumm klingen, aber es ist tatsächlich ein Problem, gegen sein eigenes Bild von einem jüngeren Selbst kämpfen zu müssen! Es ist nicht einfach, zu akzeptieren, dass man jetzt anders ist.
Letzten Herbst zeigte La Ribot in Paris das Best of ihrer „Distinguished Pieces“, „Distinguished Hits“. Wieder einmal fiel mir ihre starke aber auch distanzierte Präsenz auf, wie sie inmitten stehender und sitzender Zuschauer*innen auftrat. Sie hat dazu eine Theorie.
LR: Um die absolute Konzentration zu erreichen, wenn man auftritt, braucht man 5 Hirne. Das erste sitzt tief in den Muskeln, den Sehnen, den Gelenken, dem Magen, eigentlich in allen Organen, in allem, was einen zu einem physischen Wesen macht. Damit verbinde ich mich, indem ich mich körperlich aufwärme. Das zweite Gehirn sorgt dafür, dass der Performer/die Performerin alles um ihn/sie herum wahrnimmt. Zum Beispiel die Stimmung, das Licht und die Gerüche, das Publikum und die anderen Performer*innen. Daher ist es gut, sich vorher als Team zusammen aufzuwärmen, um das zweite Hirn mit allen im Team zu verbinden. Das dritte Hirn braucht man für die tatsächliche Aufgabe, um die Choreografie, den Text umsetzen zu können. Das vierte Hirn ist mit Lust und Fantasie verbunden. Ein Körper muss sich seiner Gedanken, Träume und sogar Halluzinationen bewusst sein. Am langweiligsten ist es jemandem zuzugucken, der sich nichts vorstellt. Das fünfte Hirn nimmt alles gleichzeitig wahr, aus der Ferne. Dieses fünfte Hirn ist nicht immer draußen, sondern reist auch in die andere Richtung, tief in einen selbst und verbindet alles andere.
In „Panoramix“ muss ich micht extrem anstrengen, um die Reihenfolge der Stücke, der Requisiten und der Aufgaben beizubehalten, und gleichzeitig bin ich vom Publikum, das jedes Mal anders ist, umgeben, ich muss mich also die ganze Zeit auch anpassen.
La Ribot war eine der ersten Künstlerinnen, die in Gallerien und Museen arbeitete, als zeitgenössische Choreograf*innen in den 90er Jahren anfingen in solchen Räume aufzutreten. Die Bildende Kunst schien freier und offener für experimentelle Arbeiten als die Tanzszene. „Panoramix“ war im Tate Modern, dem Museo Reina Sofía und dem Centre Pompidou zu sehen, und wurde erst fünf mal aufgeführt bevor es nun nach Berlin kommt. Sie nutzte auch die Wirtschaft der Bildenden Kunst, indem sie ihre Stücke an Kunstsammler*innen verkaufte. Am Anfang des letzten Jahrzehnts veränderte sich alles in der Performance Szene und sie beschloss, nicht mehr alleine aufzutreten und sich zurückzuziehen. Sie fing an mit unterschiedlichen Künstler*innen und großen Laiengruppen zu arbeiten, zum Beispiel in „40 Espontáneos “ (2004), eine Arbeit mit 40 nicht-professionnellen Darsteller*innen.
Laughing Hole
La Ribots Arbeiten sind auf zweideutige Art und Weise politisch, sie geben der Fantasie des Publikums Raum. Die Bedeutung ihrer Handlungen entfaltet sich manchmal langsam, aber wenn es das Publikum einmal verstanden hat, vergisst es diese Erfahrung nie wieder. Das Politische wird dem Publikum durch die körperliche Nähe, in der sie die Veranstaltung erleben, vermittelt und durch die Länge der Performance, die diesem Aspekt Raum lässt. „Laughing Hole“ ist eine bizarre, fast surrealistische 6-stündige Performance über Politik, in der die Performer*innen durchgehend lachen, bis sie den Moment der völligen Erschöpfung erreichen.
Die Zuschauer*innen werden zu Freund*innen, was etwas komisch ist, da wir im Prozess ganz allein sind: es ist eine der einsamsten Sachen, die ich in meinem ganzen Leben gemacht habe.
LR: „“Laughing Hole“ war eine Reaktion auf die Eröffnung des Gefangenenlager Guantanamo Bay und ich hatte vor, es nicht mehr zu zeigen, sobald es geschlossen würde. Tja, ich denke nicht, dass Trump das tun wird, daher spielen wir es weiterhin. Die Performance dauert sechs Stunden, das heißt aber nicht, dass man nur vorbeikommen sollte. Ich würde eher empfehlen die ganze Zeit zu bleiben, oder für längere Zeit… um die Metamorphose, die durch den Widerstand stattfindet, zu erleben. Als Performer*in entwickelt man eine Beziehung zu denjenigen, die das mit einem teilen. Die Zuschauer*innen werden zu Freund*innen, was etwas komisch ist, da wir im Prozess ganz allein sind: es ist eine der einsamsten Sachen, die ich in meinem ganzen Leben gemacht habe. Eines Tages, nach einer Performance von „Laughing Hole“ in Japan, habe ich einen Mann auf der Straße ganz euphorisch umarmt, er hatte die ganzen sechs Stunden mit uns am Vortag verbracht und ich hielt ihn für einen Freund!
Gustavia
2006 schloss sich La Ribot mit der französischen Choreografin Mathilde Monnier zusammen, um „Gustavia“ zu entwickeln. Mit dieser Arbeit kehren sie zurück zu einem klassischen Theaterraum und allem, was das mit sich bringt. Über viele Jahre hinweg begegneten sich die zwei Frauen immer wieder, diskutierten und zeigten ihre eigenen Arbeiten, bevor sie beschlossen, zusammenzuarbeiten. „Gustavia“ ist ein Meisterwerk, ein feministischer Klassiker, in der zwei außerordentliche Choreografinnen aufeinander treffen. La Ribot beschreibt die Probenphase wie einen wahren Dialog und einen freien Ideenfluss.
LR: Ich wollte unbedingt wieder mehr mit Theater und Tanz machen und Mathilde interessierte sich für Burleske und Clowning. So kam es, dass wir beschlossen, uns auf der Bühne die ganze Zeit anzugucken. Ich arbeite sehr gern mit Mathilde und habe sehr schöne Erinnerungen an diesen Prozess, aber Mathilde (sie lacht) fand den Prozess schrecklich!
Ich performe wahnsinnig gerne mit Mathilde, da wir nie versuchen einverstanden zu sein.
Sie springt wieder auf und zeigt mir, wie viel Spaß sie auf der Probebühne hatten. Man kann es sich leicht vorstellen. Etwas ganz besonderes liegt in der Luft, wenn diese zwei ‚Diven‘ einander auf der Bühne begegnen.
LR: Ich finde es wichtig, „Gustavia“ im Rahmen der Retrospektive zu zeigen, da es um zeitlose Themen geht, wie Femininität, Selbstdarstellung, Theater und unsere Rolle in der Gesellschaft. Ich performe wahnsinnig gerne mit Mathilde, da wir nie versuchen einverstanden zu sein – sei es bei der Frage, wie wir etwas tun, wie wir uns auf der Bühne verhalten und was „Gustavia“ ist.
Another Distinguée
Arbeit und das Verhältnis zwischen Arbeit und Sexualität sind wiederkehrende Motive in La Ribots Werk. In ihren Arbeiten wird dies durch die endlose Wiederholung bestimmter Aufgaben oder Bewegungen oder durch die Isolation der Performer*innen deutlich. In manchen ihrer Arbeiten wiederholen die Performer*innen bestimmte Bewegungsmuster sehr lange, als wären sie Teil einer industriellen Produktionskette. Für sie sind Sexualität und Arbeit eng mit patriarchalen Strukturen verbunden.
In La Ribots neuster Arbeit, „Another Distinguée“, dreht sie die Machtstrukturen um und sucht nach einem Ausweg aus der Aufrechterhaltung der Geschlechterrollen. Diesmal gibt es eine wahre Begegnung, eine Art Verführungsspiel, zwischen La Ribot, dem Schauspieler Juan Loriente und dem Tänzer Thami Manekehla, die Helden, Krieger und Meerjungfrauen spielen. Das greift viele Themen auf, die in älteren Arbeite auftauchen, aber es entsteht auch etwas Neues.
LR: In „Another Distinguée“, geht es um die Freiheit, sich vorzustellen, was ich möchte und worauf ich Lust habe. Es geht auch darum, auf der Ebene des Instinkts zu arbeiten. Konzeptkunst oder politische Korrektheit sind mir egal. Ich nehme mir als Künstlerin die Freiheit, mir eine Frau mit totaler Macht vorzustellen. Anders als in meinen anderen Arbeiten muss sich das Publikum etwas vorstellen, was es nicht gibt. Ein Kritiker hat darin Sachen gesehen, die nicht stattfinden, zum Beispiel, dass ich mich gegen die Geschlechtsteile der männlichen Performer reibe. Ihre Geschlechtsteile! Das tu ich gar nicht, wir twisten nur!
„Another Distinguée“ wird auf der Bühne aufgeführt und das Publikum kann sich frei inmitten der Performer*innen bewegen. Es ist für La Ribot typisch zwischen der Black Box, dem Theater, und dem White Cube, dem Museumsraum, zu wechseln und sich den Raum zu suchen, der für ihre live Performances am geeignetsten ist. Aber diese Entscheidung betrifft auch ihre Identität als Künstlerin.
LR: Vom Theater in eine Galerie zu gehen hat mir ermöglicht nicht nur mit meinem Körper zu arbeiten und zu tanzen, sondern über Performance im weiteren Sinne nachzudenken, mir auch Tanz anzugucken. Als Tänzer*innen und Choreograf*innen sind wir auch zeitgenössische Künstler*innen, wir können in einem größeren Rahmen denken.
Beware of Limitations
LR: Ich sehe mich wie eine Art Loie Fuller, weil sie sich nicht nur mit der Körper- und Bewegungssprache auseinandersetzt, sondern auch mit Raum und Licht. Sie war Regisseurin, eine metteuse en scène. Sie hat sich damit beschäftigt, wie das Theatralische und das Visuelle im weitesten Sinne funktionieren. Das steht im Zentrum meiner Arbeit. Es geht nicht darum in was für einem Raum man arbeitet. Es hängt davon ab, wie man diesen Raum sieht. Ich sehe Performance als ein Akt der Öffnung und des Expandierens, erst in den Körper, dann in den Raum, in das Gebäude, in die Leute um einen rum, in die Stadt und in die Welt. Es wird zu einer Sprache, die alle anderen Disziplinen beinhaltet, die man braucht um weiter zu denken, über das, was die Körpersprache ausdrücken kann, hinweg.
Stell dir vor: wenn man nicht Tänzer*in sein müsste, könnte man Künstler*in sein. Darum geht es in „Distinguished Pieces“: den Tanz in einen anderen Raum zu bringen. Ich finde es wichtig, das Tanzen und die Künstler*innen als intrinsisch interdisziplinär zu begreifen.
La Ribot ist eine der ersten konzeptuellen Künstler*innen ihrer Generation, sie hat die Tanzszene in den letzten zwanzig Jahren wachsen sehen. Sie unterrichtet auch an der Hochschule für Kunst und Design (HEAD) in Genf, weswegen sie sich oft über die Zukunft von Tanz Gedanken macht.
LR: Im Flugzeug nach Berlin habe ich darüber nachgedacht, wie wichtig es ist, dass es Künstler*innen gibt. Warum? Weil Künstler*innen gut beobachten, sehen, fühlen und über die Welt nachdenken können. Unsere Position ist kritisch und feinfühlig zugleich, damit können wir uns mit einer anderen Form von Intelligenz einbringen. Je mehr Künstler*innen es gibt, umso besser wird unsere Welt. Dieser Gedanke hat zu einem anderen geführt: Vielleicht habe ich eine Form von Reife erreicht. Der Moment, in dem man plötzlich Dinge versteht.
Background Photo Title: Caroline Morel-Fontaine
Background Video: La Ribot & Mathilde Monnier
Background Photo #1: Manuel Vason
Background Photo #2: Marc Coudrais
Background Photo #3: Daniel Hofer
Es ist wichtig, das Tanzen und die Künstler*innen als intrinsisch interdisziplinär zu begreifen.